Konkrete und abstrakte Normenkontrolle

Konkrete Normenkontrolle und Richtervorlagen nach Art. 100 GG

Eine weitere Gruppe bedeutsamer Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht betreffen die Richtervorlagen, die Art. 100 GG vorsieht. Das gilt vor allem für die Vorlagen der Fachgerichte nach Art. 100 Abs. 1 GG, die als Verfahren der konkreten Normenkontrolle bezeichnet werden.

Die Gerichte der Länder und des Bundes sind zwar berechtigt und verpflichtet, die Verfassungsgemäßheit aller Rechtsnormen, welche sie anwenden, im fachgerichtlichen Verfahren inzident oder mittelbar zu prüfen. Sie sind jedoch grundsätzlich nicht berechtigt, förmliche Bundes- oder Landesgesetze (Parlamentsgesetze) für nichtig zu erklären, als verfassungswidrig zu behandeln oder nicht anzuwenden. Die Verwerfungskompetenz für (nachkonstitutionelle) Parlamentsgesetze liegt vielmehr ausschließlich beim Bundesverfassungsgericht sowie – hinsichtlich des jeweiligen Landesrechts – auch bei den Verfassungsgerichten des Bundes und der Länder (sog. Verwerfungsmonopol).

Dabei gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts strenge formelle und inhaltliche Anforderungen an die Zulässigkeit von Vorlagebeschlüssen.

Auf Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG beruhen aus neuerer Zeit etwa die für das Steuer- und Sozialrecht bedeutsamen Beschlüsse zum steuerfreien Existenzminimum (BVerfGE 82, 60 und 99, 246) und zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die sozialrechtlichen Bestimmungen über Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes im SGB II (BVerfGE 125, 175 und vom 25.07. 2014). Ein bedeutendes frühes Vorlageverfahren betraf das (vom vorlegenden Oberlandesgericht bezweifelte) Außerkrafttreten von dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstehendem Ehe- und Familienrecht mit Ablauf der im Grundgesetz bestimmten Übergangsfrist Ende März 1953, weil bzw. obwohl der Bundesgesetzgeber seiner Pflicht zur Anpassung noch nicht nachgekommen war (BVerfGE 3, 225). Auch das erst 1958 zustande gekommene Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts (Gleichberechtigungsgesetz) hat den Verfassungsauftrag nur höchst unvollständig umgesetzt. So gab es u.a. zahlreiche Verfassungsbeschwerden, aber auch Richtervorlagen zum Namensrecht für Eheleute (so 1988 die Entscheidung BVerfGE 78, 38 zur inzwischen abgeschafften Pflicht, einen gemeinsamen Familiennamen zu führen, und 1991 der Beschluss BVerfGE 84, 9 zur Verfassungswidrigkeit des damals noch geltenden Zwangs zur Führung des Geburtsnamens des Mannes bei fehlender Einigung der Eheleute) sowie zu den Rechten nichtehelicher Kinder und ihrer Väter.  Weitere wesentliche Grundsatzentscheidungen sind ferner etwa 1977 im Verfahren der konkreten Normenkontrolle auf Vorlage einer Schwurgerichtskammer des Landgerichts Verden zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord (BVerfGE 45, 187) ergangen und 1981 zur Abgrenzung zwischen Inhaltsbestimmung des Eigentums und entschädigungspflichtiger Enteignung (Nassauskiesungs-Urteil BVerfGE 58, 300).

In den Ländern gelten entsprechende Vorlagepflichten für die formellen Landesgesetze. Nicht dem verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopol und der Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG sowie entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Regelungen unterliegen Rechtsvorschriften (Normen) im Range unter dem formellen Gesetz (sog. materielle Gesetze oder Gesetze im materiellen Sinne). Sie können von jedem Gericht selbständig als verfassungswidrig und nichtig beurteilt und behandelt werden.

Abstrakte Normenkontrolle

Im abstrakten Normenkontrollverfahren können auch die untergesetzlichen Rechtsnormen zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt werden. Die Entscheidung des Bundes- oder Landesverfassungsgerichts entfaltet dann – wie in allen Normenkontrollverfahren – „Gesetzeskraft“ und Bindungswirkung für alle Staatsorgane einschließlich der Gerichte. Dies gilt auch, wenn die Verfassungsgerichte die Vereinbarkeit von Rechtsnormen mit der Bundes- und Landesverfassung positiv feststellen.

Die abstrakte (oder prinzipale) Normenkontrolle ist von einem konkreten Rechtsstreit losgelöst und nicht fristgebunden. Als Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Normen des Bundesrechts oder des Landesrechts dient sie objektiven Zwecken, insbesondere der Rechtssicherheit. Als objektives Überprüfungsverfahren gibt es im abstrakten Normenkontrollverfahren keinen Antragsgegner. Es ist lediglich einem kleinen Kreis von Antragsberechtigten vorbehalten. Dazu zählen nach Bundesrecht (nur) die Bundesregierung, ein Viertel (bis 2009 ein Drittel) der Mitglieder des Bundestags und jede Landesregierung (Art.  93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG). Für die landesverfassungsrechtlichen Normenkontrollverfahren vor den Landesverfassungsgerichten gelten entsprechende Beschränkungen.

Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle (eines abstrakten Normenkontrollantrags oder einer abstrakten Normenkontrollklage) vor dem Bundesverfassungsgericht können alle Rechtsnormen aus Bund und Ländern sein, d.h. in erster Linie formelle oder förmliche Gesetze (Parlamentsgesetze), aber auch Verordnungen und kommunale sowie andere hoheitlich erlassene autonome Satzungen von bundes- oder landesunmittelbaren Personen des öffentlichen Rechts. Anfechtbar sind ferner die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane des Bundes und der Länder und normativ wirkendes Gewohnheitsrecht. Ob auch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen der abstrakten Normenkontrolle unterliegt, ist bisher nicht ausdrücklich geklärt. Dafür spricht allerdings deren Qualifizierung im Verhältnis zu den ohne sie nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als „ein Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art 9 Abs. 3 GG findet“ (BVerfGE 44, 322 und 55,7).

Im Normenkontrollverfahren nicht überprüfbar sind: Völkerrecht (theoretisch mit Ausnahme der allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die nach Art. 25 GG als Bundesrecht gelten), das Recht der früheren DDR und Verwaltungsvorschriften, soweit sie nicht ausnahmsweise normativen Charakter mit Außenwirkung haben. Dasselbe gilt für Planfeststellungsbeschlüsse, die nach dem Verwaltungsverfahrensrecht Verwaltungsakte sind, und öffentlichrechtliche Pläne oder Programme, soweit sie nicht als Gesetze im formellen oder materiellen Sinne ergehen.

Während Rechtsprechung und Literatur früher davon ausgingen, dass alle rechtswidrigen Rechtsnormen eo ipso unwirksam und nichtig sind, differenziert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihr folgend der Landesverfassungsgerichte heute nach der Art und den Rechtsfolgen von Verfassungsverstößen. Während bei inhaltlichen Fehlern die Nichtigkeit tendenziell die regelmäßige Folge des Verfassungsverstoßes bildet, führt ein Verfahrensfehler mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit nur dann zur Nichtigkeit der Norm, wenn er evident ist (BVerfGE 91, 148); bei Gleichheitsverstößen mit der Möglichkeit mehrerer gleichheitsgemäßer Ersatzregelungen muss dem Gesetzgeber regelmäßig Gelegenheit zu einer eigenen verfassungsmäßigen Regelung gegeben werden.  Die Tenorierungen reichen von der Feststellung der Nichtigkeit oder Teilnichtigkeit ex tunc oder ex nunc über die Feststellung der Verfassungswidrigkeit mit vorübergehender Weitergeltungsanordnung bis hin zur Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Verfassung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, gegebenenfalls mit Fristsetzung für die Neuregelung und verfassungsgerichtlichen Übergangsregelungen.

Diesen Entscheidungen vorgelagert ist die nach ständiger Rechtsprechung gebotene und inzwischen anerkannte Prüfung, ob eine als verfassungswidrig beanstandete oder erscheinende Norm verfassungskonform ausgelegt werden kann. Ist eine geltungserhaltende verfassungskonforme Auslegung möglich, dann hat sie in jedem Falle Vorrang vor einer geltungsvernichtenden Entscheidung über die Norm, weil die Gerichte den Rechtssetzungsakt des Normgebers so weit als möglich (bis zur Grenze der durch Interpretation nicht mehr „heilbaren“ Verfassungswidrigkeit) zu achten haben.

Abstrakte Normenkontrollverfahren betreffen meist politisch und/oder gesellschaftlich besonders umstrittene Gesetze. Folgende Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spiegeln dies wider: 1973 das Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (BVerfGE 36, 1), 1975 und 1993 die beiden Urteile zum Schutz des ungeborenen Lebens und zur Strafbarkeit der Abtreibung (BVerfGE 39, 1 und 88, 203), 1990 zwei Entscheidungen zum Ausländerwahlrecht in zwei Bundesländern (BVerfGE 83, 37 und 60), 1993 und 2009 die Urteile zu den – gleichzeitig auch mit Verfassungsbeschwerden angegriffenen – Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon zur Gründung der Europäischen Union und deren Weiterentwicklung (BVerfGE 89,55 und 123, 267), 1999 und 2010 Entscheidungen zur Verfassungswidrigkeit von zwei Verordnungen zur Haltung von Legehennen (BVerfGE 101, 1 und 127, 293), in jüngster Zeit auch die Entscheidungen zum Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 132,1 und 133, 241; vgl. auch die zur Ermächtigung zum Abschuss von Flugzeugen in § 14 Abs. 3 des Gesetzes vorgezogene Entscheidung zu Rechtssatzverfassungsbeschwerden BVerfGE 115, 118), zum verfassungswidrigen negativen Stimmgewicht nach § 6 Bundeswahlgesetz 2011 in einem verbundenen abstrakten Normenkontroll-, Organstreit- und Verfassungsbeschwerdeverfahren (BVerfGE 131, 316) und die Urteile vom 25.03.2014 zur Zusammensetzung der ZDF-Aufsichtsgremien sowie vom 05.11.2014 zur Verfassungsmäßigkeit der Luftverkehrsteuer.