Bundes- und Landesverfassungsbeschwerde

Das hohe institutionelle Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland ist nicht zuletzt eine Folge der bei der Schaffung des Grundgesetzes noch abgelehnten, im Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 aber enthaltenen und seit 1969 im Grundgesetz verankerten Bundesverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG ). Sie erlaubt es „jedermann“, d.h. allen natürlichen und juristischen Personen, das Verfassungsgericht wegen einer Verletzung der Grundrechte (Art. 1 bis Art. 19 GG) und bestimmter grundrechtsgleicher Rechte (aus Art. 20 Abs. 4, Art. 33, 38, 101, 103, 104 GG) anzurufen. Über 95% aller Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sind Verfassungsbeschwerden.

Verfassungsbeschwerden sind zwar kein ordentliches Rechtsmittel, sondern lediglich  ein „außerordentlicher Rechtsbehelf“ und in der Regel nur gegen letztinstanzliche Entscheidungen der Fachgerichte, d.h. der Zivil- und Strafgerichte, Arbeitsgerichte, Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichte, zulässig (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde; vgl. zu den Anforderungen an die Einlegung von Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht  das „Merkblatt über die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht“). Auch haben Verfassungsbeschwerden im langjährigen Durchschnitt nur in 2% bis 3% aller Verfahren Erfolg. Trotz dieser geringen Erfolgsquote, die nicht zuletzt auf eine im Allgemeinen hohe Qualität der fachgerichtlichen Verfahren und Entscheidungen schließen lässt, werden Verfassungsbeschwerden von den Bürgern offenbar als vertrauensbildende Chance wahrgenommen, notfalls und in jedem Einzelfall alles staatliche Handeln auf seine Verfassungsmäßigkeit  durch das höchste deutsche Gericht überprüfen zu lassen. Diese Bedeutung als Vertrauenspotential für die Akzeptanz des Rechtsstaats (und die präventiv-erzieherische Wirkung der Verfassungsbeschwerdemöglichkeit) verkennt die gelegentliche Kritik an einer angeblich übertriebenen Einzelfallgerechtigkeit durch die Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Seit 1951 bis heute sind immerhin über 4600 Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht erfolgreich gewesen. Die hierzu ergangenen Beschlüsse und Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben neue Maßstäbe für Parlament, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung gesetzt und dem Grundrechtskatalog zu praktischer Wirksamkeit in allen Rechtsgebieten verholfen. Neben wichtigen Leitentscheidungen zu Verfassungsbeschwerden gab und gibt es zahlreiche stattgebende Entscheidungen insbesondere zu Verstößen gegen den als Verfahrensgrundrecht geschützten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht. Sie betreffen beispielsweise die früher nicht selten zu engherzige Auslegung der Vorschriften über gesetzliche Fristen und die Wiedereinsetzung in deren schuldlose Versäumung sowie die Handhabung des Beweisrechts in den Verfahren aller Fachgerichtsbarkeiten.

Trotz des großen Erfolgs der Verfassungsbeschwerde gibt es bis heute auch ernst zu nehmende Kritik an dem Verfahren. Sie betrifft neben den Zulässigkeits- und Begründungshürden vor allem das immer noch umstrittene Annahmeverfahren.

Nach dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht bedarf jede Verfassungsbeschwerde der Annahme zur Entscheidung (§ 93a BVerfGG), entweder in Fällen offensichtlicher Begründetheit und Stattgabe durch den einstimmigen Beschluss einer mit drei Richtern besetzten Kammer des Ersten oder des Zweiten Senats oder in allen anderen Fällen durch einen der beiden Senate in voller Besetzung (§ 93b BVerfGG). Für die Annahme durch den Senat genügen drei (von acht) Stimmen.

Die Verfassungsbeschwerde ist anzunehmen, wenn ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, d.h. wenn die von ihr aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht geklärt sind, oder wenn es zur Durchsetzung der Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte angezeigt, insbesondere wenn sie offensichtlich begründet ist. oder wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung einer Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entstünde.

Die Annahme kann – wie faktisch in über 95% aller Verfassungsbeschwerdeverfahren – im schriftlichen Verfahren durch einstimmigen, unanfechtbaren Beschluss einer Kammer abgelehnt werden und bedarf nach dem Gesetz keiner Begründung (§ 93d Abs. 1 BVerfGG).

Durch solche Nichtannahmebeschlüsse fühlen sich viele Beschwerdeführer nicht ernst genommen und in ihren Verfahrensgrundrechten verletzt, insbesondere wenn das Bundesverfassungsgericht selbst ausführlich begründete und von spezialisierten Rechtsanwälten verfasste Verfassungsbeschwerden mit „einem weißen Blatt Papier“ ohne jede Begründung nicht zur Entscheidung annimmt. Der Sache nach, so argwöhnen viele Betroffene, läuft diese problematische Praxis darauf hinaus, contra oder praeter legem ein Annahmeverfahren nach weitem richterlichen Ermessen zu praktizieren. Mehrere Vorstöße, ein solches „freies“ Annahmeverfahren (ähnlich wie beim amerikanischen Supreme Court) zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts wegen der jährlich über 6000 neuen Verfassungsbeschwerden einzuführen, sind indes – ebenso wie andere Entlastungsvorschläge – gescheitert. Wohl nicht zuletzt deshalb macht das Gericht in den letzten Jahren zunehmend von der Möglichkeit Gebrauch, Verfassungsbeschwerden ohne jede Begründung abzulehnen. Das ist für viele unverständlich.

Dass die Ablehnungsgründe nicht selten auch in ordnungsgemäß und substantiiert vorgetragenen Fällen im Dunkeln bleiben, erscheint ferner nicht überzeugend, weil den Kammern für alle Verfahren im Zweifel detaillierte Vorgutachten der Wissenschaftlichen Mitarbeiter beim Bundesverfassungsgericht vorliegen, welche in aller Regel die Grundlage der Nichtannahmeentscheidung bilden. Zumindest ein Hinweis, ob die Nichtannahme auf einer Verneinung der Zulässigkeit und/oder Begründetheit der Verfassungsbeschwerde beruht, wäre also generell ohne großen Aufwand möglich und angebracht. Die Suche nach einem weitergehenden Ausweg, der einerseits die Arbeitsbelastung und Funktionsfähigkeit des Gerichts berücksichtigt und andererseits dem verständlichen Wunsch der Beschwerdeführer und der Fachwelt nach zumindest kurzer, einsichtiger inhaltlicher Begründung der Entscheidungen über die Nichtannahme gerecht wird, bleibt eine drängende Aufgabe des Bundesgesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichts.

Der gesetzlichen Bezeichnung nach und im Hinblick auf die anzuwendenden Verfahrensbestimmungen um Verfassungsbeschwerden handelt es sich auch bei den Kommunalverfassungsbeschwerden, mit denen sich  Gemeinden und Gemeindeverbände zur Verteidigung ihrer Rechte auf Selbstverwaltung gegen Gesetze wehren können (§ 91 BVerfGG). Der Sache nach sind es besondere abstrakte Normenkontrollen, wenn auch zum Schutz des subjektivierten Rechts auf Selbstverwaltung. Im Hinblick auf die Subsidiarität der bundesrechtlichen Kommunalverfassungsbeschwerde liegt ihre eigentliche Bedeutung eher im Landesverfassungsrecht. Im Rastede-Urteil BVerfGE 79, 127 hat das Bundesverfassungsgericht  grundsätzlich zum Wesensgehalt der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie Maßstäbe aufgezeigt, die auch das Landesverfassungsrecht binden und prägen.

Den außerordentlichen Rechtsbehelf einer Landesverfassungsbeschwerde gibt es  nicht in allen, sondern bislang nur in 11 von 16 Bundesländern. Außer Bayern, das eine Individualbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof bereits seit langem kennt, und ähnlich Hessen, wo sie Grundrechtsklage heißt, haben das Saarland und alle neuen Bundesländer (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) sowie Berlin und seit 2013 auch Baden-Württemberg die Landesverfassungsbeschwerde zur Wahrung der in den Landesverfassungen gewährleisteten (Landes-)Grundrechte eingeführt. Die Verfassungsgerichte der Bundesländer Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein kennen dagegen bislang keine individuelle Grundrechtsverfassungsbeschwerde des Einzelnen gegen Akte der Landesstaatsgewalt. Diese Landesverfassungsgerichte entscheiden „nur“ über  die klassischen Verfassungsstreitigkeiten, also vor allem über die – verfassungsrechtlich und politisch herausgehobenen – Streitverfahren zwischen den Verfassungsorganen oder Teilen von ihnen (Organstreitverfahren oder Organklagen), über die bereits erwähnten Normenkontrollanträge von Kommunen gegen Landesgesetze zur Verteidigung ihrer Rechte auf Selbstverwaltung (kommunale Verfassungsbeschwerden oder Kommunalverfassungsbeschwerden) und – mit unterschiedlicher Ausgestaltung – in  Wahlprüfungsverfahren sowie in einigen Ländern zu Streitigkeiten über Volksbegehren und Volksentscheide.

Soweit Verfassungsbeschwerden zu den Landesverfassungsgerichten vorgesehen sind, unterliegen sie weitgehend den entsprechenden Anforderungen wie die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht.

Anforderungen an Landesverfassungsbeschwerden

Auch die Landesverfassungsbeschwerde ist schriftlich einzureichen und zu begründen. Die Begründung muss substantiiert sein, d.h. die behauptete Grundrechtsverletzung ist unter Darlegung des entscheidungserheblichen Sachverhalts konkret und nachvollziehbar darstellen.

Dazu muss die Verfassungsbeschwerdeschrift den angegriffenen  Hoheitsakt des Landes, gegen den sich die Verfassungsbeschwerde richtet (hoheitliche Maßnahme, insbesondere Verwaltungsakt, gerichtliche Entscheidung, Gesetz), genau bezeichnen. Wird eine Gerichtsentscheidung angegriffen, sollte diese Entscheidung (einschließlich in Bezug genommener Bescheide und Schriftsätze) vorgelegt werden; zumindest muss deren Inhalt einschließlich der Begründung aus sich heraus verständlich und so vollständig vorgetragen sein, dass eine verfassungsrechtliche Nachprüfung möglich ist. Entsprechendes gilt für alle Unterlagen, auf die sich der Beschwerdeführer beruft, oder ohne deren Kenntnis die Zulässigkeit und Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde nicht beurteilt werden können.

Zusätzlich muss das verletzte Grundrecht aus der jeweiligen Landesverfassung benannt oder jedenfalls seinem Rechtsinhalt nach bezeichnet werden. Verfassungsbeschwerden an ein Landesverfassungsgericht, die oft nur auf Grundrechte und Artikel des Grundgesetzes gestützt werden, können bereits daran scheitern.

Und schließlich muss im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs zu den Fachgerichten ausgeführt und ggf. belegt werden, dass der Beschwerdeführer vor der Anrufung des Verfassungsgerichts alles ihm Zumutbare unternommen hat, um die behauptete Grundrechtsverletzung vor den Fachgerichten abzuwenden. Dazu gehört vor allem, dass der Beschwerdeführer die ihm durch das Prozessrecht eingeräumten Rechtsmittel und Rechtsbehelfe ordnungsgemäß ergriffen und unter Einhaltung aller Frist- und Formvorschriften im Ergebnis erfolglos durchlaufen hat.

Zusammengefasst ist danach in der je nach Landesrecht unterschiedlich fristgebundenen Verfassungsbeschwerdeschrift im Einzelnen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auszuführen, worin die Grundrechtsverletzung bestehen soll. Hierzu muss in erster Linie der gesamte erhebliche Sachverhalt (einschließlich des Verfahrensgangs und des wesentlichen Inhalts der zumeist angegriffenen Gerichtsentscheidungen), aus dem sich die behauptete Grundrechtsverletzung ergeben soll, aus sich heraus nachvollziehbar und schlüssig dargestellt werden. Das Begründungserfordernis dient nämlich dazu, dem Verfassungsgericht die Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde ohne weiteren Aufwand anhand der eingereichten Begründung und Unterlagen, d.h. in der Regel ohne weitere eigene Ermittlungen und Beiziehung von Akten, zu ermöglichen. Erst wenn die Verfassungsbeschwerdeschrift und die eingereichten Unterlagen ergeben, dass eine Grundrechtsverletzung wie behauptet in Betracht kommt, wird das Verfassungsgericht die Akten des Ausgangsverfahrens anfordern und den Beteiligten des Ausgangsverfahrens (bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde) sowie weiteren in den Verfassungsgerichtsgesetzen genannten Institutionen Gelegenheit zur Stellungnahme geben.

Sogenannte Rechtssatzverfassungsbeschwerden, die sich unmittelbar gegen landesrechtliche Gesetze, Rechtsverordnungen oder Satzungen wenden, sind im Regelfall unzulässig. Rechtsnormen bedürfen nämlich zumeist der Ausführung durch Akte der öffentlichen Gewalt oder durch ebenfalls anfechtbare Gerichtsentscheidungen. Die Rechtsnormen können und müssen dann in diesen Verfahren inzident auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Deswegen kann und muss  der Betroffene zunächst den Rechtsweg vor den zuständigen Gerichten erschöpfen. Nur wenn der Beschwerdeführer durch eine Norm des Landesrechts selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschwert ist, kann er in zulässiger Weise direkt und sofort gegen die ihn belastenden Bestimmungen Verfassungsbeschwerde erheben. Das ist in der Praxis allerdings nicht nur ganz selten der Fall. Die genannten Voraussetzungen liegen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundesrecht und nach der entsprechenden Entscheidungspraxis der Landesverfassungsgerichte u.a. dann vor, wenn die Erschöpfung des Rechtswegs unzumutbar ist, weil gesetzliche Verhaltensvorschriften oder Verbote mit Strafe oder als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeld bewehrt sind. Das Risiko eines Straf- oder Bußgeldverfahrens muss mit anderen Worten niemand auf sich nehmen, bevor er die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes vor den Verfassungsgerichten geltend macht.

Dagegen machen das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte von der Möglichkeit, nach ihrem Ermessen eine Verfassungsbeschwerde wegen über den Einzelfall hinausreichender allgemeiner Bedeutung schon vor Erschöpfung des Rechtswegs zuzulassen (vgl. zum Bundesrecht § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG), kaum Gebrauch. Auch Entscheidungen nach dieser Ausnahmebestimmung in Einzelfällen, wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde, sind eher rar. Sie kommen aber in Betracht, wenn – in  seltenen Fällen – schneller und effektiver Eilrechtsschutz durch die Fachgerichte nicht zu erlangen ist oder verweigert wird.

Die wohl aufsehenerregendste Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts zu einer Verfassungsbeschwerde betraf die Anordnung der Freilassung des 80-jährigen  früheren DDR-Ministerpräsidenten Erich Honecker aus der Untersuchungshaft durch den erst 1992 gegründeten Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin im Januar 1993. Der Verfassungsgerichtshof entschied damals, die Fortsetzung des Strafverfahrens gegen Honecker wegen Tötungsdelikten aufgrund von Anordnungen zum Ausbau der Grenzanlagen und zum Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze und in Berlin zwischen 1961 und 1989 verletze seine Menschenwürde. Die Vorinstanzen hätten nämlich auf der Grundlage ärztlicher Sachverständigengutachten festgestellt, dass er aufgrund einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung den Abschluss des Strafverfahrens, der frühestens für Ende 1993 zu erwarten sei, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben werde. Honecker wurde einen Tag nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs freigelassen, reiste nach Chile aus und starb dort Ende Mai 1994.