Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Verfassungsbeschwerden

Zu den interessanten und wichtigen Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in Verfassungsbeschwerdeverfahren ergangen sind, zählen z.B. folgende Urteile und Beschlüsse:

– 1957 Elfes-Urteil (BVerfGE 6, 32) zur Ausreisefreiheit als Schutzgegenstand des Auffanggrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit mit weiten Beschränkungsmöglichkeiten

– 1958 Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198) zum Boykottaufruf gegen einen Film von Nazi-Regisseur Veit Harlan mit Ausführungen zur Bedeutung der Grundrechte für die Auslegung aller Normen, auch des Zivilrechts

– 1958 Apotheken-Urteil (BVerfGE 7, 377) zum Grundrecht der Berufsfreiheit und zur sog. Dreistufentheorie als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei Grundrechtsschranken

– 1959 Elterliche Gewalt-Urteil (BVerfGE 10, 59) zur Gleichberechtigung bei der Ausübung des elterlichen Sorgerechts (und später zahlreiche weitere Entscheidungen zum Familienrecht, so etwa 1971 (BVerfGE 31, 194) zum Sorge- und Umgangsrecht für nichteheliche Kinder, 2003 (BVerfGE 108, 82) zum Umgangsrecht des sog. biologischen Vaters, 2010 (BVerfGE 127, 132) zu den Rechten nichtehelicher Väter sowie 2013 (BVerfGE 133, 59) zum Adoptionsrecht für Lebenspartner)

– 1962 Ehegatten-Arbeitsverhältnisse-Urteile (BVerfGE 13, 290 und BVerfGE 13, 318) zur steuerlichen Anerkennung von Arbeitsverträgen unter Ehegatten im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz von Ehe und Familie

– 1969 Blinkfüer-Beschluss (BVerfGE 25, 256) zu einem unzulässigen Boykottaufruf des Springer-Verlags gegen eine gleichnamige Wochenzeitung, die auch Rundfunk- und Fernsehprogramme von DDR-Sendern abdruckte

– 1972 Numerus-clausus-Urteil (BVerfGE 33, 303) Anspruch auf Zulassung zum Studium als Teilhaberecht

– 1972 Förderstufe-Urteil (BVerfGE 34, 165) zum Gesetzesvorbehalt im Schulrecht und Ausgangsentscheidung zur sog. Wesentlichkeitstheorie, fortgeführt in Speyer-Kolleg-Urteil (BVerfGE 41, 251), dem Oberstufenreform- Urteil (BVerfGE 45, 400) zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe in Hessen, 1977 (BVerfGE 47, 46) zur Zulässigkeit des Sexualkundeunterrichts im Spannungsfeld mit anderen Grundrechten sowie 1979 im Schulgebet-Urteil (BVerfGE 52, 223) zur Zulässigkeit eines überkonfessionellen Schulgebets

– 1973 Kruzifix im Gerichtssaal (BVerfGE 35, 366) zur negativen Glaubensfreiheit und zum Minderheitenschutz; nachfolgend 1995 das bis heute umstrittene, aber ähnliche zweite Kruzifix-Urteil (BVerfGE 93, 1) zur Anbringung von Kreuzen in staatlichen Schulen in Bayern; zum staatlichen Neutralitäts- und Toleranzgebot siehe auch das Schulgebet-Urteil von 1979 (BVerfGE 52, 223) und 2003 Kopftuch-Urteil (BVerfGE 108, 282) zur Regelungsaufgabe und dem Regelungsspielraum des Gesetzgebers bezüglich des Verbotes von Kopftuchtüchern in öffentlichen Schulen

– 1979 Mülheim-Kärlich-Urteil (BVerfGE 53, 30)  zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Atomenergie nach dem Atomgesetz und zum Grundrechtsschutz durch Verfahren; das vorausgegangene Kalkar I-Urteil 1978 (BVerfGE 49,89) zur grundsätzlichen Genehmigungsfähigkeit von KKW des Typs des sogenannten Schnellen Brüters ist auf Richtervorlage ergangen; die Verfassungsbeschwerde der Gemeinde Sasbach 1982 gegen die erste Teilgenehmigung des nicht gebauten Kernkraftwerks Wyhl (BVerfGE 61, 82) unter Berufung auf ihr Grundstückseigentum scheiterte  schon an der Verneinung ihrer Grundrechtsfähigkeit und an der Verfassungsmäßigkeit der gegen sie angewandten Präklusionsbestimmungen. Die jüngsten Verfassungsbeschwerden gegen das Endlager Schacht Konrad und die Zwischenlagerung von Kernbrennstoffen sind durch Kammerentscheidungen zuletzt vom 10.11.2009 (Planfeststellungsbeschluss Bergwerk Konrad) bzw. 12.11.2008 (Standortzwischenlager Gundremmingen und Grafenrheinfeld) nicht zur Entscheidung angenommen worden, ebenso schon am 04.07.1996 Verfassungsbeschwerden gegen den Betrieb des Kernkraftwerks Obrigheim wegen Fehlens einer Dauerbetriebsgenehmigung. Die Differenzen schließlich um den Umfang und die Grenzen der Aufsichts- und Weisungsrechte des Bundes bei der atomrechtlichen Bundesauftragsverwaltung sind in mehreren Bund-Länder-Streitverfahren zugunsten des Bundes geklärt worden (zuletzt 2002 zum Kernkraftwerk Biblis (BVerfGE 104, 249) unter Bezugnahme auf das Kalkar II-Urteil (BVerfGE 81, 310))

– 1983 Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1) mit der Kreation des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts; eine weitergehende Ausprägung ist das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, das neue „Computer-Grundrecht“ auf Schutz gegen heimliche Internet-Aufklärung durch Zugriffe mittels technischer Infiltration (Online-Durchsuchung oder Online-Überwachung) ohne richterliche Anordnung und ohne konkrete Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut, vgl. das Urteil aus 2008 zum insoweit nichtigen Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen (BVerfGE 120, 274); Urteil zu §31 PolG NRW (BVerfGE 115, 320) zum verbotenen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch eine präventive polizeiliche Rasterfahndung aufgrund allgemeiner Bedrohungslagen ohne konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person; vgl. ferner zum Verbot der auch nur verdeckten Speicherung unzulässig heimlich erhobener Daten vgl. auch  das Urteil zum Gesetz über eine – grundsätzlich zulässige – Antiterrordatei (BVerfGE 133, 277 , Rn. 226 ff.)

– 1984 Anachronistischer Zug-Urteil (BVerfGE 67, 213) zur Kunstfreiheit und zum verfassungsrechtlichen Begriff der Kunst in Fortschreibung der Mephisto-Entscheidung 1971 (BVerfGE 30, 173); vgl. auch die späteren Entscheidungen: Josefine Mutzenbacher-Urteil 1990 (BVerfGE 83, 130) und Esra-Urteil 2007(BVerfGE 119, 1)

– 1985 Brokdorf-Urteil (BVerfGE 69, 315)  zur Versammlungsfreiheit und zum Gewaltbegriff; zur Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Münster zu Demonstrationsverboten und Beschränkungen von Meinungsäußerungen für Rechtsradikale  vgl. BVerfGE 111, 147  und BVerfGK 13, 82; vgl. aber auch das „Auschwitzlüge“-Urteil von 1994 (BVerfGE 90, 241) zu (zulässigen) Auflagen für eine Versammlung  und ferner BVerfGE 90, 1 zur (unzulässigen) Indizierung eines Buches zur „Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges“

– 1986 Vollzug lebenslanger Freiheitsstrafe  auch nach 22 Jahren Haft noch verfassungsgemäß bei 87-jährigem Auschwitz-Mörder (BVerfGE 72, 105); vgl. auch die erste, 1977 auf Richtervorlage ergangene Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord (BVerfGE 45, 187) und zum Hafturlaub für NS-Mörder aus dem Jahre 1983 (BVerfGE 64, 261)

– 1990 Kindergeld und steuerfreies Existenzminimum  (BVerfGE 82, 60) und spätere, auch durch Richtervorlagen herbeigeführte Entscheidungen 1998 (BVerfGE 99, 216) zum Familienausgleich und zum Kinderexistenzminimum I und II  (BVerfGE 99, 246 sowie BVerfGE 99, 268) sowie neuerdings 2008 (BVerfGE 120, 125) zum einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum in Anlehnung an das „sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau“

– 1997 „Kind als Schaden“ (BVerfGE 96, 375) zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation oder fehlerhafter genetischer Beratung

– 2000 Kammerentscheidung „Genetischer Fingerabdruck“ (BVerfGE 103, 21) zur Verfassungsmäßigkeit der Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern bei verurteilten Straftätern; dazu siehe mehrere weitere Kammerentscheidungen, jüngst Beschluss vom 29.09.2013 – 2 BvR 939/13 – zur Zulässigkeit der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen

– 2002 Schächterlaubnis-Urteil (BVerfGE 104, 337) zum Anspruch auf Ausnahmegenehmigung vom tierschutzrechtlichen Verbot des Schächtens für muslimische Metzger

– 2003 Kopftuch-Urteil/ Fereshta Ludin (BVerfGE 108, 282) zur Verfassungswidrigkeit der Ablehnung einer Muslima als ungeeignet für die Berufung in ein Beamtenverhältnis auf Probe als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen mit der Begründung, ihr fehle wegen der erklärten Absicht, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, die notwendige Neutralität.

– 2004 „Großer Lauschangriff“ (BVerfGE 109, 279) zur akustischen Wohnraumüberwachung nach § 100c und § 100d StPO und zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung; vgl. auch das Urteil von 2013 zum Gesetz über eine – grundsätzlich zulässige – Antiterrordatei (BVerfGE 133, 277)

– 2006 Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 115, 118) zur Nichtigkeit der Abschussermächtigung von Flugzeugen, die gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, weil und soweit tatunbeteiligte Menschen an Bord betroffen werden

– 2006 „Schläfer“-Urteil (BVerfGE 115, 320) zum Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch eine präventive polizeiliche Rasterfahndung aufgrund allgemeiner Bedrohungslagen ohne konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person

– 2007 (BVerfGE 117, 202) zur Pflicht des Gesetzgebers, ein rechtsförmiges Verfahren allein zur Feststellung der Vaterschaft bereitzustellen

– 2008 einstweilige Außerkraftsetzung der Vorratsdatenspeicherung (BVerfGE 121, 1), dazu 2010 das Urteil in der Hauptsache (BVerfGE 125, 260) zu den Voraussetzungen einer verfassungsrechtlich zulässigen Regelung der europarechtlich vorgesehenen Vorratsdatenspeicherung und zur Nichtigkeit der Regelungen im „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. Dezember 2007“

– 2008 Rauchverbot-Urteil (BVerfGE 121, 317) zu den Nichtraucherschutzgesetzen Baden-Württemberg und Berlin: (nur) teilweise verfassungswidrig wegen Begünstigungsausschluss für getränkegeprägte Kleingastronomie und für Diskotheken; ebenso BVerfGE 130, 131 zum Hamburgischen Passivraucherschutzgesetz: gleichheitswidrige Ausnahme von einem gesetzlichen Rauchverbot in abgeschlossenen Raucherräumen nur für Schankwirtschaften, aber nicht für Speisewirtschaften; vgl. zu weiteren Verfassungsbeschwerden zum Schutz von Nichtrauchern und zur Sensibilisierung des Bundesverfassungsgerichts: einerseits den Nichtannahme-Beschluss einer Kammer des 1. Senats wegen eines Unterlassens des Gesetzgebers vom 09.02.1998 (NJW 1998, 2961), weil nicht ersichtlich sei, „dass die derzeit existierenden gesetzgeberischen Maßnahmen evident unzureichend wären“ und dabei „offen bleiben“ könne, „ob mittlerweile hinreichend verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisse über die Gesundheitsrisiken des Passivrauchens existieren

– 2009 Ehedoppelnamen-Urteil (BVerfGE 123, 90) zum verfassungsgemäßen Ausschluss von Mehrfachnamen oder Namensketten; zu der langen Reihe von Namensentscheidungen nach dem Familienrecht des BGB; vgl. auch Doppelnamenausschluss-Urteil 2002 (BVerfGE 104, 373) zum Ausschluss von Kinderdoppelnamen aus Elternnamen und zu Entscheidungen auf Richtervorlagen zum Ehenamen:  verfassungswidriger Zwang zu Mannesnamen als Familienname (BVerfGE 84, 9)  und- aus dem Jahre 1988 – zur Verfassungsmäßigkeit des bis 1994 vorgeschriebenen gemeinsamen Familien- oder Ehenamens (BVerfGE 78, 38)

– 2010 Elternrecht des Vaters (BVerfGE 127, 132) zum verfassungswidrigen Ausschluss nichtehelicher Väter vom Sorgerecht gegen den Willen der Mutter

– 2011 Sicherungsverwahrung (BVerfGE 128, 326) zur Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung nach dem Strafgesetzbuch, zur Unzulässigkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung sowie der nachträglichen Verlängerung einer früher angeordneten Sicherungsverwahrung und zur verfassungsrechtlichen Pflicht zu Regelungen der präventiven Freiheitsentziehung in deutlichem Abstand zum Strafvollzug („Abstandsgebot“) sowie zu Grundlagen und Grenzen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte;  ebenso 2012 BVerfGE 131, 268 mit weiteren Ausführungen zur „vorbehaltenen Sicherungsverwahrung“

– 2013 Antiterrordateigesetz (BVerfGE 133, 277) zur Vereinbarkeit der Errichtung der Antiterrordatei als Verbunddatei verschiedener Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit dem Grundgesetz,  zu den gesteigerten Anforderungen aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung an Regelungen, die den Austausch von Daten der Polizeibehörden und Nachrichtendienste ermöglichen (informationelles Trennungsprinzip), und zu einer noch hinreichend bestimmten sowie dem Übermaßverbot entsprechenden gesetzlichen Ausgestaltung (hinsichtlich der Bestimmung der beteiligten Behörden, der Reichweite der als terrorismusnah erfassten Personen, der Einbeziehung von Kontaktpersonen, der Nutzung von verdeckt bereitgestellten erweiterten Grunddaten, der Konkretisierungsbefugnis der Sicherheitsbehörden für die zu speichernden Daten und der Gewährleistung einer wirksamen Aufsicht)

– 2013 Splittingtarif für Lebenspartnerschaften (BVerfGE 133, 377)