Organstreit

Das Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist neben der Verfassungsbeschwerde, den Normenkontrollen und Wahlprüfungsverfahren wohl die bedeutendste Verfahrensart. Es zielt auf die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten von Verfassungsorganen oder Teilen von ihnen und von anderen Beteiligten, die in der Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Die mit der Organklage als verletzt geltend gemachte Rechtsposition muss in einem Verfassungsrechtsverhältnis gründen. Ein Verfassungsrechtsverhältnis liegt vor, wenn auf beiden Seiten des Streits Verfassungsorgane oder Teile von Verfassungsorganen stehen und um verfassungsrechtliche Positionen streiten.

Ein (fristgebundener) Antrag im Organstreitverfahren ist zulässig, wenn der Antragsteller geltend machen kann, dass er durch eine Maßnahme oder eine Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch die Verfassung übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss die zur Nachprüfung gestellte Maßnahme rechtserheblich sein oder sich zumindest zu einem die Rechtsstellung des Antragstellers beeinträchtigenden, rechtserheblichen Verhalten verdichten können. Als rechtserhebliche Maßnahme kommt jedes Verhalten des Antragsgegners in Betracht, das geeignet ist, die Rechtsstellung des Antragstellers konkret zu beeinträchtigen. Handlungen, die nur vorbereitenden oder bloß vollziehenden Charakter haben, scheiden als Angriffsgegenstand im Organstreit aus.

Typische Organstreitigkeiten betreffen das Parlamentsrecht. So münden Auseinandersetzungen zwischen Oppositionsfraktionen bzw. einzelnen Oppositionsabgeordneten und dem Parlament, dessen Willen durch die Mehrheitsfraktion(en) verbindlich gebildet wird, nicht selten in Verfahren vor den  Verfassungsgerichten. Im Organstreit sind allerdings nur Verletzungen der Rechte des Antragstellers aus der Verfassung feststellbar, hingegen grundsätzlich nicht politische Mitwirkungsbefugnisse an Entscheidungen der Regierung (vgl. BVerfGE 68,1 zur Organklage der Bundestagsfraktion der Grünen gegen die Zustimmung zur Aufstellung von nuklear bestückten amerikanischen Pershing-2 Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern in der Bundesrepublik Deutschland). Dazu zählen insbesondere die in der Geschäftsordnung des Bundes- oder Landtags konkretisierten Statusrechte, etwa das Rederecht des Abgeordneten und die Zuteilung von Redezeiten, ebenso die Berücksichtigung – auch fraktionsloser Abgeordneter (vgl. grundlegend das Wüppesahl-Urteil BVerfGE 80, 188) – bei der Besetzung der Ausschüsse und Teilnahme an Ausschusssitzungen. Auch die Pflicht der Abgeordneten des Bundestags zur Angabe von Nebeneinkünften war – erfolglos – Gegenstand einer Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 118, 277). Im Organstreitverfahren angegriffen waren auch die Auflösungen des Deutschen Bundestags 1982 und 2005 nach den gescheiterten Vertrauensfragen der Bundeskanzler Kohl und Schröder, die jeweils den Weg zu Neuwahlen öffneten (BVerfGE 62, 1 und 114, 121).

Bereits früh hat das Plenum des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass den politischen Parteien mit Rücksicht auf ihre Stellung nach Art. 21 GG der Organstreit zur Wahrung ihrer verfassungsrechtlich garantierten Rechte  – insbesondere zur Wahrung ihres Rechts auf Gleichbehandlung in Wahlverfahren – zur Verfügung steht (vgl. den noch in dem nur kurze Zeit eröffneten Gutachten-Verfahren ergangenen Beschluss von BVerfGE 4, 1). Davon haben die Parteien bis heute öfter Gebrauch gemacht, so auch (erfolglos) die NPD 2014 gegen in der Presse dem Bundespräsidenten in zeitlicher Nähe zum Bundestagswahlkampf 2013 zugeschriebene Äußerungen („Spinner“) und gegen Äußerungen einer Bundesministerin im Vorfeld der Landtagswahl in Thüringen („Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt“; siehe BVerfG, Beschlüsse vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13 – und vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14 -).

Weitere wichtige Gegenstände des Organstreits ergeben sich aus dem Recht der qualifizierten Minderheit von einem Viertel der Mitglieder des Bundestags nach Art. 44 GG auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen sowie aus der Wahrnehmung der entsprechenden Minderheitsrechte ihrer Vertreter im Untersuchungsausschuss, denen insbesondere ein Beweiserzwingungs- und Beweisdurchsetzungsrecht zusteht. Sie haben zu richtungsweisenden Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geführt. Die Fraktionen können darüber hinaus mit der Organklage generell neben ihren eigenen aus der Verfassung ableitbaren Rechten auch Verfassungsorganrechte des Parlaments als Ganzem (in sog. Prozessstandschaft) wahrnehmen. Das sehen § 64 Abs. 1 BVerfGG und die entsprechenden Bestimmungen der Verfassungsgerichtsgesetze der Länder ausdrücklich vor.

Im Organstreit um die Zulässigkeit der Teilnahme deutscher Soldaten an der AWACS-Überwachung der Türkei im Frühjahr 2003 hat das Bundesverfassungsgericht hierzu klarstellend ausgeführt (BVerfGE 121, 135 Rn. 48): „Die Antragsbefugnis der Antragstellerin, der Fraktion der FDP im Deutschen Bundestag, kann schließlich nicht mit dem Argument verneint werden, der Bundestag habe mit der Ablehnung des maßgeblich von der Antragstellerin initiierten Entschließungsantrags am 20. März 2003 auf die Ausübung seiner Rechte verzichtet. Sinn und Zweck der in § 64 Abs. 1 BVerfGG vorgesehenen Rechte liegen gerade darin, der Parlamentsminderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Deutschen Bundestags auch dann zu erhalten, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen will. Die Zuerkennung der Prozessstandschaftsbefugnis ist insofern sowohl Ausdruck der Kontrollfunktion des Parlaments als auch Instrument des Minderheitenschutzes.“

Diese Befugnis steht den einzelnen Abgeordneten nicht zu. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum ISAF-Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr (BVerfGE 117, 359) rechtfertigt sich der Ausschluss des einzelnen Abgeordneten von der prozessstandschaftlichen Wahrnehmung von Rechten des Bundestags aus dem aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Zweck der Öffnung des Organstreitverfahrens für andere Beteiligte als die obersten Bundesorgane. Dies sei vor dem Hintergrund der weitgehenden Übereinstimmung von Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit im parlamentarischen Regierungssystem zu sehen und sollte nach der Vorstellung des Parlamentarischen Rates vor allem dazu dienen, Oppositionsfraktionen und damit der organisierten parlamentarischen Minderheit als dem Gegenspieler der Regierungsmehrheit den Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht zu eröffnen, um die tatsächliche Geltendmachung der dem Parlament im Verfassungsgefüge zukommenden Rechte zu ermöglichen. Im Übrigen, so das Bundesverfassungsgericht weiter, wird der Status der einzelnen Abgeordneten auch nicht von der Frage berührt, ob ein Beschluss des Bundestags rechtswirksam ist oder nicht. Das Grundgesetz verleiht den Abgeordneten kein eigenes Recht im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG dahingehend, dass das Verhalten des Bundestags in jeder Hinsicht, auch soweit es ihren Status nicht berührt, mit dem Grundgesetz in Einklang steht. Für eine umfassende, von eigenen Rechten des Abgeordneten losgelöste, abstrakte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit angegriffener Maßnahme ist im Organstreit kein Raum. Das Organstreitverfahren dient (nur) dem Schutz der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis zueinander, nicht einer allgemeinen Verfassungsaufsicht.

Statusrechte aus der Verfassung in diesem Sinne sind ferner nicht betroffen, wenn lediglich „die Modalitäten des Vollzugs eines bereits ergangenen Beweisbeschlusses“ eines Untersuchungsausschusses oder andere Entscheidungen der Mehrheit zum Verfahrensablauf angegriffen werden, wie die Bestimmung des Zeitpunktes und des Ortes der Vernehmung eines Zeugen (vgl. neuerdings BVerfG, Beschluss vom 04.12.2014 zur Vernehmung von Edward Snowden in Berlin durch den NSA-Untersuchungsausschuss).

Für die Organstreitverfahren vor den Landeverfassungsgerichten gelten durchweg parallele Voraussetzungen und Erwägungen (vgl. zu einem landesinternen Organstreit BVerfGE 120, 82 zur Sperrklausel bei Kommunalwahlen, über den das Bundesverfassungsgericht 2008 noch als Landesverfassungsgericht entschieden hat).