Rückblick auf Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes Berlin von Juni 2004 bis Ende 2011

Auszug aus der Rede von Michael Hund als Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin am 12.06.2012 aus Anlass des Präsidentinnen- und Richterwechsels und des Festaktes zum 20-jährigen Bestehen des Verfassungsgerichtshofes, veröffentlicht in: Zwanzig Jahre Berliner Verfassungsgerichtsbarkeit, 2012, 21 ff. Die Vortragsform wurde beibehalten.

„… Es war ein waschechter Berliner, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda, der nach einer glaubhaften Überlieferung und sicher mit seinem feinen Berliner Akzent  gesagt haben soll -: „Verfassungsrichter ist man erst, wenn man nachts verfassungsrechtlich träumt!“

Dieses besondere Erlebnis verbindet uns – wenn auch wahrscheinlich in individuell unterschiedlicher Weise -, nämlich die sechs noch für zwei Jahre im Amt verbliebenen Richterinnen und Richter und die drei, die heute offiziell verabschiedet werden und bereits ausgeschieden sind, sowie die an ihrer Stelle gewählten, inzwischen fast schon eingearbeiteten neuen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs. …

Unter den rund 250 veröffentlichten Entscheidungen seit Juni 2004 waren viele wichtige und interessante Urteile und Beschlüsse, von denen ich nur ein paar wenige – und auch nur in Kurzform – colorandi causa in Erinnerung rufen darf :

Das Urteil vom 1. November 2004 [1], mit dem der Verfassungsgerichtshof gesetzliche Beschränkungen der autonomen Ausübung des universitären Promotionsrechts als mit der Wissenschaftsfreiheit für unvereinbar und nichtig erklärt hat.
Zwei Urteile vom 22. November 2005 [2]: das eine betraf ein erfolgloses Organstreitverfahren gegen den Doppelhaushalt für die Haushaltsjahre 2004 und 2005

und

das andere die Versagung der Zulassung des Volksbegehrens „Schluss mit dem Berliner Bankenskandal“[3]

Mehrere Entscheidungen zur Presse-, Rundfunk- und Meinungsfreiheit, so z.B.
der Beschluss vom 5. April 2006 [4], mit dem eine Verletzung des Anspruchs auf Rundfunkfreiheit des Senders RBB durch fehlende zivilgerichtliche Abwägung kollidierender Grundrechte im Streit um eine Gegendarstellung festgestellt wurde

der Beschluss vom 7. November 2006 [5], in dem es um eine unbegründete Verfassungsbeschwerde gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen widerrechtlicher Verwendung des Bildes eines Polizisten auf einem satirisch verfremdeten Fahndungsplakat ging

– und ein Beschluss vom August 2008 [6]. In diesem Fall war Gegenstand eines von vielen Gegendarstellungsbegehren des letzten Polizeipräsidenten von Berlin gegen eine Berliner Tageszeitung: Der Verfassungsgerichtshof hat eine Entscheidung des Kammergerichts aufgehoben und es abgelehnt, einer Behörde denselben grundrechtlichen Ehren-Schutz wie einer Einzelperson zu gewähren, und verlangt, der Pressefreiheit in solchen Fällen eine gesteigerte Bedeutung beizumessen.

 Ebenfalls in mehreren Entscheidungen ging es um Wahlprüfungen, so auch in einem Beschluss vom Februar 2007 [7] um die komplizierte Verteilung der Ausgleichsmandate bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2006.
Von den Entscheidungen, an denen wir gemeinsam beteiligt waren, darf ich noch erwähnen:
– die sog. „Pharao-Entscheidung“  vom November 2007 [8] zum Eilrechtsschutz in ausländerrechtlichen Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung

– den Beschluss vom Februar 2009 [9] zum Strafprozessrecht (Gewährung von Einsicht eines Dritten in strafprozessuale Ermittlungsakten)

– zwei Urteile vom März 2009 zu Rechtssatzverfassungsbeschwerden:

einmal von Ärzten gegen eine Änderung des Berliner Kammergesetzes [10]

und

zum anderen der Universitäten gegen die Neuregelung der Zugangsvoraussetzungen zu Masterstudiengängen [11]

– unseren Beschluss vom 3. November 2009 [12] zu menschenunwürdigen Haftbedingungen in der Teilanstalt I der JVA Tegel

– sowie die Entscheidung vom September 2009 [13] zu einer schier unglaublichen faktischen Rechtsschutzverweigerung für einen Auslieferungshäftling

– den Beschluss vom Dezember 2009 [14] zur im Ausgangsverfahren verletzten Pflicht der Zivilgerichte zur Prüfung einer Haftungsbeschränkung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht von Minderjährigen (Gegenstand war die gesamtschuldnerische Verurteilung der Beschwerdeführerin, eines zum Schadenszeitpunkt 12-jährigen, nicht haftpflichtversicherten Mädchens, zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 5.000,- EUR an einen Radfahrer [weil es den Pudel eines damals 94-jährigen, inzwischen verstorbenen Nachbarn ausgeführt hatte und der Radfahrer, der dem Pudel nicht auswich, gestürzt war und sich verletzt hatte])

– das erste grundsätzliche Urteil vom Juli 2010 [15] zum parlamentarischen Kontrollrecht des einzelnen Landtagsabgeordneten auf Akteneinsicht in Unterlagen der Senatsverwaltung zur  Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe

– einen Beschluss vom September 2010 [16] als Beispiel für zahlreiche ähnliche Entscheidungen zum Umgangs- und Sorgerecht in den Jahren zuvor mit unterschiedlichem Ausgang: hier zur Frage einer Verletzung des Elternrechts durch fachgerichtlichen vollständigen Entzug der Personensorge (verneint für eine fast volljährige Tochter)

– den Beschluss vom April 2011 [17]: verfassungsgemäße Heranziehung zur Kirchensteuer aufgrund einer durch Taufe begründeten und nicht durch Austritt beendeten Kirchenmitgliedschaft von in der ehemaligen DDR geborenen und getauften Personen

– und schließlich zwei für die beschwerdeführenden Studenten erfolgreiche Numerus-Clausus-Entscheidungen:

die eine aus dem Jahr 2008 zur Verletzung des Grundrechts auf freie Wahl der Ausbildungsstätte [18] und des Ausbildungsortes (der Beschwerdeführer wollte unbedingt in Berlin studieren und hat sich zu Recht von den Verwaltungsgerichten nicht auf freie Studienplätze woanders verweisen lassen)

und

 die andere vom Dezember 2011 zur  verfassungswidrigen Festsetzung der Ausbildungskapazität [19] für den (Bachelor-) Studiengang Psychologie an der Humboldt-Universität (die fehlende Verordnung über den Curricularnormwert hat der Senat inzwischen erlassen). ….“

[1]- VerfGH 210/03 -: Beschränkungen durch die Neuregelung des § 35 Hochschulgesetz Berlin

[2]- VerfGH 217/04 -: Organstreitverfahren gegen den Doppelhaushalt für die Haushaltsjahre 2004 und 2005 wegen Verletzung von Art. 86 Abs. 3 S. 2 VvB durch Unterlassen der Vorlage der – ausnahmslos jährlichen – Finanzplanung von Berlin für die Jahre 2004 bis 2008 an das Abgeordnetenhaus durch den Senat (keine Verletzung von statusmäßigen Abgeordnetenrechten)

[3]- VerfGH 35/04 -: Versagung der Zulassung des Volksbegehrens „Schluss mit dem Berliner Bankenskandal“ verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Volksgesetzentwurf zur Aufhebung des Risikoabschirmungsgesetzes und Auflösung der Bankgesellschaft Berlin verstößt gegen den haushaltsrechtlichen Parlamentsvorbehalt und die parlamentarische Budgethoheit gem. Art. 62 Abs. 5 VvB)

[4]- VerfGH 59/06 -: in der Hauptsache: Verletzung des Anspruchs auf Rundfunkfreiheit des Senders RBB durch fehlende zivilgerichtliche Abwägung der kollidierenden Grundrechte bei Ausstrahlung einer redaktionellen Erwiderung im Anschluss an eine Gegendarstellung in der Magazinsendung „Klartext“ (gleichzeitig erging eine einstweilige Anordnung gegen den Vollzug der Entscheidung des Kammergerichts)

[5]- VerfGH 56/05 -: Unbegründete Verfassungsbeschwerde gegen strafgerichtliche Verurteilung wegen widerrechtlicher Zurschaustellung eines Bildnisses eines Polizisten i.S.v. § 33 KunstUrhG; keine Verletzung der  Kunstfreiheit (Art. 21 S. 1 VvB) und der Meinungsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 VvB).  Zur Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht (Art. 7 VvB) bei Verwendung eines Bildnisses in unzutreffendem Kontext – satirische Verfremdung eines Fahndungsplakats der Polizei

[6]- VerfGH 22/08 -: Gegendarstellungsbegehren von Behörden (Polizeipräsident)

[7] – VerfGH 169/06 -: Wahlprüfung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2006. Feststellung des Wahlergebnisses der Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2006 im Bezirk Steglitz-Zehlendorf durch den Landeswahlausschuss war rechtsfehlerfrei; Verteilung der Ausgleichsmandate nach § 17 Abs. 3 WahlG BE auf die Bezirkslisten nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren war bei verfassungskonformer Auslegung nicht zu beanstanden. Chancengleichheit der Wahlbewerber wurde nicht verletzt.

[8]-  VerfGH 103/07 -: Verletzung des Grundrechts auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art 15 Abs. 4 VvB durch Unterlassen einer umfassenden Interessen- und Folgenabwägung durch das OVG im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO (Ablehnung der Herstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung einer ehebedingten Aufenthaltserlaubnis, Ausweisung und Abschiebungsandrohung trotz günstiger erstinstanzlicher  Entscheidung in der Hauptsache; die Ausländerbehörde hatte ihre Entscheidung u.a. damit begründet, der Beschwerdeführer habe am 12. August 2005 als Vorbeter beim Freitagsgebet in dem Gebetsraum der Technischen Universität vor ca. 150 gläubigen muslimischen Studenten die Geschichte von Moses und dem Pharao zum Anlass genommen, Parallelen zum gegenwärtigen Irak zu ziehen und hierbei den amerikanischen Präsidenten Bush und den britischen Premierminister Blair mit dem Pharao verglichen. Er habe ihnen das gleiche Schicksal wie dem Pharao angedroht und sie als Unterdrücker der Muslime bezeichnet.)

[9]- VerfGH 132/08, 132 A/08 -: Verfassungswidrige Gewährung von Akteneinsicht eines Dritten in strafprozessuale Ermittlungsakten nach § 475 StPO ohne Beachtung und Abwägung der schutzwürdigen Interessen der Betroffenen

[10]- VerfGH 96/07 -: Erfolglose Verfassungsbeschwerde von Ärzten gegen eine Änderung des Berliner Kammergesetzes (Inkompatibilität der gleichzeitigen Wahrnehmung von Ämtern im Vorstand der Kammer für Heilberufe und einem Ausschuss des Versorgungswerks der Heilberufekammer)

[11]- VerfGH 199/06 -: Erfolglose Verfassungsbeschwerden der Universitäten wegen Verletzung der Wissenschafts- und Lehrfreiheit durch die Neuregelung der Zugangsvoraussetzungen für Masterstudiengänge im Berliner Hochschulgesetz

[12]- VerfGH 184/07 -: menschenunwürdiger, nicht nur kurzzeitig zugewiesener Einzelhaftraum von 5,25 m² Bodenfläche mit räumlich nicht abgetrennter Toilette in der Teilanstalt I der JVA Tegel

[13]- VerfGH 159/07 -: zum verfassungswidrigen Vollzug der vorläufigen Inhaftnahme zur Durchführung eines Auslieferungsverfahrens. Die Fesselung des Gefangenen und Beschränkungen seines freien mündlichen und schriftlichen Verkehrs mit seinem anwaltlichen Beistand verletzen das Recht auf effektiven Rechtsschutz und die materiellen Grundrechte, wenn ein Fachgericht sie als rechtmäßig bestätigt, ohne den Sachverhalt zureichend aufzuklären.

[14]-  VerfGH 31/09 –

[15]- VerfGH 57/08 – (Organklage)

[16]-  VerfGH 156/09 –

[17]- VerfGH 131/10 -: zur Heranziehung zur Kirchensteuer aufgrund einer durch Taufe begründeten und nicht durch Austritt beendeten Kirchenmitgliedschaft für in der ehemaligen DDR geborene und getaufte Personen.

[18]- VerfGH 28/11, 28 A/11, 29/11, 29 A/11 -: Die Verwaltungsgerichte sind in Numerus-clausus-Eilverfahren nicht befugt, einen entgegen Landesrecht nicht durch Rechtsverordnung festgesetzten Curricularnormwert (hier: für den Bachelorstudiengang Psychologie) durch eigene Berechnungen des Lehraufwands zu ersetzen.

[19]- VerfGH 81/08, 81 A/08 -: Das Grundrecht eines Studienbewerbers auf freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 17 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Satz 2 VvB) erfordert eine eingehende fachgerichtliche Überprüfung normierter Kapazitätsbeschränkungen. Dies gilt zum Schutz der freien Orts- und Hochschulwahl auch dann, wenn ein entsprechender Studiengang anderenorts zulassungsfrei ist. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB) gebietet eine derartige Überprüfung bereits im Eilverfahren, wenn nicht auszuschließen ist, dass das fachgerichtliche Hauptsacheverfahren erst nach -vollständigem oder weitgehendem – Abschluss eines anderenorts aufgenommenen vergleichbaren Studiums rechtskräftig abgeschlossen wird.