Wahlprüfungsverfahren

Eine weitere Kategorie wichtigerer Verfahren sind die in Art. 41 Abs. 2 GG und in § 13 Nr. 3 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht übertragen Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundestags, die die Gültigkeit einer Bundestagswahl und die Feststellung des Mandatsverlusts eines Bundestagsabgeordneten betreffen.

Die Wahlprüfungsbeschwerde kann sich gegen die Gültigkeit der Wahl wegen Wahlfehlern im Wahlrecht (Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze der freien, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahl) oder im Wahlgeschehen in den Stadien der Wahlvorbereitung, Wahldurchführung oder Ergebnisfeststellung richten, soweit sie der Wahlprüfung unterliegen (§ 48 Abs. 1 BVerfGG). Im Wahlprüfungsverfahren wird nicht nur der angegriffene Wahlprüfungsbeschluss des Bundestags nach dem Wahlprüfungsgesetz in formeller und materieller Hinsicht geprüft, sondern vor allem auch die Verfassungsmäßigkeit des angewandten Wahlgesetzes.

Dabei setzt die Wahlprüfung erst nach der Wahl ein. Eine vorgelagerte oder vorbeugende Wahlprüfung durch das Bundesverfassungsgericht findet nicht statt. In einer Entscheidung vom 23.07.2013 hat das Bundesverfassungsgericht hierzu klargestellt (BVerfGE 134, 135 Rn. 5 ohne Zitate): „Ist nach der gesetzlichen Konzeption Rechtsschutz im Wahlverfahren grundsätzlich erst nach der Durchführung einer Wahl zu erlangen, so schließt dies auch eine in das einstweilige Anordnungsverfahren vorverlegte Wahlprüfungsbeschwerde aus, die sich gegen Entscheidungen und Maßnahmen im Wahlverfahren richtet. Daran hat die Schaffung einer Beschwerde von Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c und durch das Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen (BGBl 2012 I S. 1501) nichts geändert. Der Gesetzgeber hat vielmehr dadurch, dass er lediglich die Entscheidung des Bundeswahlausschusses, welche Parteien zur Einreichung von Wahlvorschlägen berechtigt sind (§ 18 Abs. 4 BWahlG), verfassungsgerichtlicher Überprüfung vor der Wahl unterworfen hat, deutlich gemacht, dass im Übrigen die bisherige Konzeption des Rechtsschutzes in Wahlangelegenheiten erhalten bleiben sollte.“

Obwohl das verfassungsgerichtliche Wahlprüfungsverfahren nur durch eine Beschwerde und nicht von Amts wegen in Gang setzen kann, hat es überwiegend objektiven Charakter. Über den weiteren Verlauf des Verfahrens und seinen Abschluss entscheidet das Bundesverfassungsgericht in Ansehung des öffentlichen Interesses. Mit dem Ende der Wahlperiode erledigt sich die Wahlprüfungsbeschwerde praktisch regelmäßig, sofern sie nicht neue, bisher ungelöste Fragen mit Bedeutung für weitere Wahlen aufwirft.

Antragsberechtigt sind alle Wahlberechtigten oder Gruppen von Wahlberechtigten, deren Einspruch vom Bundestag verworfen worden ist, sowie eine Bundestagsfraktion oder eine Minderheit des Bundestages, die wenigstens ein Zehntel der gesetzlichen Mitgliederzahl umfasst. Die Beschwerde ist binnen einer Frist von zwei Monaten seit der Beschlussfassung des Bundestages beim Bundesverfassungsgericht zu erheben und innerhalb dieser Frist zu begründen.

Eine zulässige Wahlprüfungsbeschwerde hat nur dann Erfolg, wenn festgestellt werden kann, dass ein „erheblicher“ Wahlfehler vorliegt, der sich nicht nur theoretisch möglicherweise, sondern konkret nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf die Sitzverteilung ausgewirkt haben kann. In Wahlprüfungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sind wohl auch wegen dieses strengen Maßstabs nur in vergleichsweise eher wenigen Fällen grundsätzliche Wahlrechtsentscheidungen ergangen.

Zum Bundestagswahlrecht waren dies:
– BVerfGE 16, 130 zur Zulässigkeit von Überhangmandaten und zur Wahlkreisgröße
– BVerfGE 36, 139 zur Beschränkung des Wahlrechts auf in Deutschland lebende Wahlberechtigte
– BVerfGE 59, 119 zur Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl
– BVerfGE 66, 369 zu unzulässiger Wahlbeeinflussung durch Arbeitgeber (vgl. auch BVerfGE 21, 196 zu
kleinen Wahlgeschenke von Parteien)
– BVerfGE 89, 243 zu Wahlfehlern bei der Aufstellung von Kandidaten durch Parteien
– BVerfGE und 123, 39 zur Bundestagswahl 2005 zum verfassungswidrigen negativen Stimmgewicht
beim Zugewinn von Zweitstimmen und zum Einsatz elektronischer Wahlgeräte
– BVerfGE 130, 212 zu Minderjährigenanteilen in Wahlkreisen und

Zu den Wahlen zum Europäischen Parlament:
– BVerfGE 134, 25 zur Zulässigkeit der Briefwahl
– BVerfGE 129, 300 zur Verfassungswidrigkeit der 5%-Sperrklausel (die nachfolgende Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der 3% Sperrklausel vom 26.02.2014 – 2 BvE 2/13 u.a. – ist auf Organklage und Verfassungsbeschwerde ergangen)

Zu Landes- und Kommunalwahlen siehe insbesondere BVerfGE 120, 82  zur Sperrklausel bei Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein; allerdings hat das Bundesverfassungsgericht hierzu noch als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein entschieden, während grundsätzlich die Wahlprüfung zu den Volksvertretungen in den Ländern Sache der Landesverfassungsgerichte ist (vgl. zuletzt BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 08.08.2012).

Grundsatzfragen des Wahlrechts wurden im Übrigen vor allem auch in Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gegen Wahlrechtsnormen getroffen  (so beispielsweise die letzte Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten BVerfGE 95, 335) oder in Organstreitverfahren (so BVerfGE 44, 125 zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung während des laufenden Bundestagswahlkampfs). Die jüngste Entscheidung zur inzwischen wiederholt als verfassungswidrig beurteilten Sitzverteilung mit ausgleichslosen Überhangmandaten nach dem Bundeswahlgesetz 2011 erging in einem verbundenen Verfahren, das sowohl abstrakte Normenkontrollen als auch Organklagen  und Verfassungsbeschwerden zum Gegenstand hatte (BVerfGE 131, 316; vgl. auch BVerfGE 121, 266 zum Bundeswahlgesetz 2005).

Vor den Landesverfassungsgerichten gibt es entsprechende Wahlprüfungsverfahren für die Wahl zu den Landesparlamenten, die allerdings Besonderheiten aufweisen. So entscheidet der Hessische Staatsgerichtshof in erster und letzter Instanz als Wahlprüfungsgericht. In Berlin besteht seit 2008 abweichend vom Bund ausdrücklich die Möglichkeit, Wahlfehler bereits vor der Wahl durch einstweilige Anordnung zu verhindern (§ 42a VerfGHG). In den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg erstreckt sich die Wahlprüfung auch auf die (kommunalen) Volksvertretungen in den Bezirken.