Deutsches Tierschutzgesetz und Unionsrecht

Der Anwendungsvorrang des europäischen Rechts hat in einigen Bereichen zu massiven Auslegungsbegrenzungen des deutschen Tierschutzgesetzes geführt. So ordnete die EU-Kommission im Rahmen der Verordnung 2777/2000 infolge der Absatzschwierigkeiten auf dem Rindfleischmarkt aufgrund der BSE-Problematik an, dass die Mitgliedstaaten alle über 30 Monate alten Tiere, die ihnen vom Erzeuger angeboten wurden, ankaufen und töten lassen sollten. Das betraf auch Rinder, die negativ auf BSE getestet worden waren. Nach der im deutschen Recht vorherrschenden Auffassung sind rein ökonomische Gründe nicht geeignet, einen vernünftigen Grund i. S. des § 1 Satz 2 des deutschen Tierschutzgesetzes darzustellen, soweit die Tötung nicht der Gewinnung von Nahrungsmitteln dient. Demnach waren die Tiertötungen allein zur Marktbereinigung bei isolierter Betrachtung des deutschen Rechts rechtswidrig. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt demgegenüber aber in solchen Fällen dazu, dass entweder das deutsche Tierschutzgesetz überhaupt nicht angewendet wird oder aber – vorzugswürdigerweise – zur Bejahung eines vernünftigen Grund im Wege einer europarechtskonformen Auslegung führt, wenn (gültiges) europäisches Recht den tierschutzwidrigen Akt gestattet.

Allerdings gibt es auch – seltene – Ausnahmefälle, in denen das deutsche Tierschutzrecht gegen Unionsrecht verstößt. So erscheint es außerordentlich fragwürdig, ob die Tierversuchsregelungen in §§ 7 ff. Tierschutzgesetz in ihrer bisherigen Anwendung durch die Behörden europarechtskonform sind. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) das Gesetz dadurch entschärft, dass es weitgehend der geschickten Selbstdarstellung des antragstellenden Forschers überlassen wird, ob z.B. ein Versuchsvorhaben ethisch vertretbar sei (vgl. BVerfG 1. Senat 1. Kammer, Beschluss vom 20.06.1994, – 1 BvL 12/94 -; dazu Hans-Georg Kluge, NVwZ 1994, 869 ff.). Demgegenüber will die Richtlinie 2010/63/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (bisher: Richtlinie 86/609 vom 24.11.1986) eine effektive Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen erreichen, wie sich etwa aus Art. 38 der Richtlinie 2010/63/EU ergibt, in welchem eine umfassende Projektbeurteilung durch die Behörde vorgesehen ist. Eine solche Prüfung durch die Genehmigungsbehörden entspricht der bereits erwähnten Leitlinie des Art. 13 1. Hs. AEUV. Das stimmt jetzt auch überein mit den in Art. 13 2. Hs. erwähnten nationalen Rechtsvorschriften, zu denen auch die Staatszielnorm des Art. 20a GG gehört.

In Deutschland sehen sich jedoch die Behörden derzeit nach wie vor aufgrund der erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sogar daran gehindert, sich entsprechende Überzeugungen über das Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen bilden zu können. Hier liegt eine Vertragsverletzung Deutschlands zum Nachteil des Tierschutzes nahe. Das Bundesverwaltungsgericht ist auf die Problematik in einer vor allem von Tierschützern heftig kritisierten Entscheidung über den Antrag auf Zulassung einer Revision der Problematik nicht eingegangen (Beschluss vom 20.01.2014 – BVerwG 3 B 29.13 -). Ob diese Kritik berechtigt ist, könnte abschließend aber erst beurteilt werden, wenn der Antrag auf Zulassung der Revision öffentlich zugänglich wäre. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Nichtzulassung der Revision durch das Bundesverwaltungsgericht auch in einer unzureichend formulierten Antragsschrift ihre Ursache findet.

Die hohe Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht der Forschungs- und Lehrfreiheit der Tierexperimentatoren auf der Grundlage des vorbehaltlosen Grundrechts des Art. 5 Abs. 3 GG zumisst, wird sich indes längerfristig wegen des Unionsrechts nicht aufrechterhalten lassen. Denn soweit die Genehmigungsvoraussetzungen für Tierversuche durch europäisches Richtlinienrecht vorgegeben sind, dürfte nicht mehr Art. 5 Abs. 3 GG für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgeblich sein, sondern Art. 13 der Europäischen Grundrechtecharta. Das Bundesverfassungsgericht hält deutsche Grundrechte dann von europäischem Recht für verdrängt, wenn die Umsetzung im Rahmen zwingenden Unionsrechts erfolgt (BVerfG, Beschluss vom 13.03.2007 – 1 BvF 1/05 -). Der Inhalt der „europäischen Wissenschaftsfreiheit“ ergibt sich aus Art. 13 der Europäischen Grundrechtecharta. Diese ist aber, wie alle anderen dortigen Grundrechte sonst auch, aufgrund des Art. 52 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta einschränkbar. Wie dieses Grundrecht auszulegen ist, ist letztverbindlich Sache des Gerichtshofs der Europäischen Union. Vermutlich wird der Gerichtshof die Wissenschaftsfreiheit wegen des Einschränkungsvorbehalts weniger hoch halten als das Bundesverfassungsgericht. Darin liegt wahrscheinlich eine Chance für den Tierschutz.

Ein weiteres Problem im Verhältnis von Unionsrecht zu nationalem Tierschutzrecht besteht darin, dass etwa die Richtlinie 2010/63/EU zumindest hinter einigen individualtierschutzrechtlichen Kerngehalten des Staatsziels Tierschutz in Art. 20a Alt. 2 GG zurückzubleiben scheint und insoweit das von diesem gebotene Schutzniveau unterschreitet (Calliess NuR 2012, 819, 829). Da eine Absenkung dieses Kerngehalts grundsätzlich gegen Art. 20a Alt. 2 GG verstößt, weil insoweit ein normatives Verschlechterungsverbot besteht, erscheint derzeit eine vollständige Umsetzung dieser EU-Richtlinie mit dem in Art. 20a GG enthaltenen Verschlechterungsverbot nicht vereinbar zu sein. Dem steht auch nicht der Vorrang des Unionsrechts entgegen. Denn nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2010/63/EU können bereits bestehende strengere nationale Vorschriften unter Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen des AEUV aufrechterhalten werden. Nach Art. 114 abs. 4 AEUV ist die Beibehaltung solcher Vorschriften möglich, „die durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 oder in Bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt sind.“ Zu den wichtigen Erfordernissen gem. Art. 36 S. 1 AEUV gehört wiederum der Tierschutz. Das zur Umsetzung der Richtlinie 2010/63/EU ergangene Dritte Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 4. Juli 2013 (BGBl. I Nr. 36 vom 12.07.2013 S. 2182; ber. 04.11.2013 S. 3911) lässt in Umsetzung des Art. 5 Buchstabe e) der Richtlinie Tierversuche zur Erhaltung der Arten zu. Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 TierSchG a.F. waren demgegenüber Tierversuche nur zum Erkennen von Umweltgefährdungen zulässig. Die Erhaltung der Arten stellt ein Mehr gegenüber dem Erkennen von Gefährdungen dar. Die Richtlinie und die genannte umsetzende Vorschrift gehen somit in diesem Punkt über die bisherigen Regelungen im Tierschutzgesetz hinaus (Calliess NuR 2012, 819, 828). Gleiches gilt für forensische Untersuchungen nach Art. 5 Buchstabe g) der Richtlinie, die einen im bisherigen Tierschutzgesetz nicht erfassten Zweck darstellen (Calliess NuR 2012, 819, 828). Diese nur beispielhaft genannten Verschlechterungen des bestehenden nationalen Tierschutzstandards, die unionsrechtlich nicht geboten waren, stellen somit einen Verstoß gegen Art. 20a Alt. 2 GG dar.

Ausblick

Der bisher auf EU-Ebene in weiten Teilen fehlende oder sehr ungenügende Schutz des Einzeltieres ließe sich insbesondere durch folgende Schritte wesentlich verbessern, die auch Inhalt der Forderungen vieler europäischer Tierschutzverbände sind, und die weit über die Forderungen hinausgehen, die etwa in der am 19. Januar 2012 von der Europäischen Kommission verabschiedeten Mitteilung über die Strategie der EU für den Schutz und das Wohlergehen von Tieren 2012-2015 formuliert worden sind, die von vielen Tierfreunden in Europa als zu vage und unverbindlich angesehen wird:

  • Die EU müsste den Tierschutz als eigenständiges Unionsziel im Sinne von Art. 3 EUV, vergleichbar dem Staatsziel Tierschutz auf nationaler Ebene, ausdrücklich anerkennen, und der Gerichtshof der Europäischen Union müsste diesen hohen Rang im Konfliktfalle in die Güterabwägung einbeziehen.
  • Vollzugsdefiziten bei der Umsetzung von EU-Mindestnormen im Bereich Tiertransporte, Nutztierhaltung, Schlachtung, Tierversuche u. a. ist wirkungsvoll nicht allein durch verstärkte Inspektionsbesuche und Kontrollberichte von EU-Inspekteuren zu begegnen. In schwierigen Fällen ist am ehesten eine Klärung und Beseitigung tierwidriger Missstände zu erwarten, wenn die Tierschutz-Verbandsklage auf Unionsebene eingeführt wird und auf diesem Wege die unabhängige Justiz die Rechtmäßigkeit der behördlichen Vorgehensweise überprüfen kann. Genau diesen Weg hat die europäische Rechtsentwicklung im Verbraucherschutz beschritten. Auch hier bestehen – wenngleich in geringerem Maße als im Tierschutz – Machtungleichgewichte. Es geht hier wie dort um einen Schutz von Schwächeren. Darum zählt nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 die Verbraucherschutz-Verbandsklage zwingend zu den angemessenen Umsetzungsmitteln, um „die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts” zu garantieren.
  • Die Forderungen der Zivilgesellschaft nach Schaffung von eher tierfreundlichen Verhältnissen stehen meist im Gleichklang mit neueren Erkenntnissen der Verhaltensforschung und der Veterinärmedizin. Die Agrarminister der EU-Mitgliedstaaten entscheiden aber häufig im Gegensatz dazu nach den ökonomischen Interessen ihrer Wirtschaftszweige. Das EU-Parlament müsste seine Mitgestaltungsrechte für die Umsetzung des gemeinschaftlichen Tierschutzrechts stärker als bisher geschehen wahrnehmen. Zugleich geht es bei derartigen Entscheidungsprozessen um eine wesentliche Aufgabe der Tierschutzverbände und der Medien, um die häufig tiefe Kluft zwischen der Rechtsidee und der Praxis des Tierschutzes schließen zu helfen.
  • Möglichkeiten der Einflussnahme zugunsten der Tiere bieten bisher wenig genutzte schriftliche Kritik und Abhilfeersuchen beim Europäischen Bürgerbeauftragten und beim Petitionsausschuss des EU-Parlaments. Alle Unions-Bürgerinnen und -Bürger können und sollten sich verstärkt beschwerdeführend auch unmittelbar an die EU-Kommission wenden.