Sicherungen des Grundgesetzes für eine unverfügbare freiheitliche und demokratische Staatsordnung

Die Erfahrungen mit dem Scheitern der ersten demokratischen Republik in Deutschland und der Weimarer Reichsverfassung haben tiefe Spuren im Grundgesetz und in den Landesverfassungen hinterlassen. Von Teilen der deutschen Staatsrechtslehre wurde die mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 eingeleitete Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung als scheinbar formal legale Machtergreifung verfassungsdogmatisch bemäntelt. Als Reaktion auf die scheinlegale Errichtung der totalitären NS-Diktatur hat das Grundgesetz von 1949 nach dem Zusammenbruch des Unrechtsstaates und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs weitreichende verfassungsrechtliche Vorkehrungen und Institutionen zum Schutz des Bestands der Verfassung geschaffen. Sie sind Instrumente einer demokratischen Verfassungsordnung, die sich selbst gegen ihre Abschaffung sichert und zur Wehr setzt („wehrhafte Demokratie“), um jede Wiederholung einer Aushöhlung und Beseitigung der verfassungsrechtlichen Grundordnung zu verhindern und als scheinlegal zu entlarven. Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in dem Urteil zum Maastricht-Vertrag vom 12.10.1993 (siehe Randnummer 89) bindet das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 die staatliche Entwicklung in Deutschland an den in ihm bezeichneten Kerngehalt der grundgesetzlichen Ordnung und sucht so die geltende Verfassung gegenüber einer auf eine neue Verfassung gerichteten Entwicklung zu festigen, „ohne selbst die verfassungsgebende Gewalt normativ binden zu können“. Er ziehe demgemäß der verfassungsändernden Gewalt Grenzen und schließe es förmlich auch aus, ein verfassungsänderndes Gesetz, das den veränderungsfesten Kern des Grundgesetzes antastet, in anderer Weise (etwa im Wege eines Volksentscheids) zu legitimieren.

Im Lissabon-Urteil vom 30.06.2009 hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus ausdrücklich offen gelassen, ob und inwieweit der Identitätskern des Grundgesetzes auch den Verfassungsgeber (pouvoir constituant) binden könnte, und was zu diesem Identitätskern gehört. Die Frage würde sich stellen, sollte die Europäische Union – wie  teilweise politisch angestrebt, durch die Finanz- und Eurokrise aber auf absehbare Zeit eher wieder unwahrscheinlich geworden – zu einem eigenständigen Staatswesen (im Sinne der europäischen Idee einer politischen Vereinigung Europas nach 1945 und der Gründung Vereinigter Staaten von Europa mit einer europäischen Nation) entwickelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu in Randnummern 216 und 217 ausgeführt:

„Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig; es ist unantastbar (vgl. BVerfGE 89, 155 <182>). Die verfassungsgebende Gewalt der Deutschen, die sich das Grundgesetz gab, wollte jeder künftigen politischen Entwicklung eine unübersteigbare Grenze setzen. Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig (Art. 79 Abs. 3 GG). Mit der sogenannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.

Ob diese Bindung schon wegen der Universalität von Würde, Freiheit und Gleichheit sogar für die verfassungsgebende Gewalt gilt, also für den Fall, dass das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung, aber in einer Legalitätskontinuität zur Herrschaftsordnung des Grundgesetzes sich eine neue Verfassung gibt (vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR VII, 1992, § 166 Rn. 61 ff.; Moelle, Der Verfassungsbeschluss nach Art. 146 GG, 1996, S. 73 ff.; Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 240 ff.; vgl. auch BVerfGE 89, 155 <180>), kann offen bleiben. Innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes jedenfalls sind die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG, also die Demokratie, die Rechts- und die Sozialstaatlichkeit, die Republik, der Bundesstaat sowie die für die Achtung der Menschenwürde unentbehrliche Substanz elementarer Grundrechte in ihrer prinzipiellen Qualität jeder Änderung entzogen.“

Zu den Sicherungen des Grundgesetzes für eine unverfügbare freiheitliche und demokratische Staatsordnung zählen vor allem:

– die gerade zitierte so genannte „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG, die jede Änderung des Grundgesetzes verbietet, „welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt“; danach sind absolut geschützt: die fundamentalen Verfassungsprinzipien Bundesstaat, Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat sowie die Menschenwürde als Hauptgrundrecht und ein mit ihr unentziehbar verbundener Grundrechtsstandard, außerdem die Grundrechtsbindung aller Staatsgewalten);

– das Verbot des Eingriffs in den Wesensgehalt jedes Grundrechts (Wesensgehaltsgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG);

– die Garantie lückenlosen und effektiven Rechtsschutzes vor unabhängigen Gerichten (Art. 19 Abs. 4 GG);

– aber auch die Verwirkung einzelner Grundrechte nach Art. 18 GG im Falle des Missbrauchs: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. “;

– das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“;

– und schließlich die Möglichkeit des Verbots von politischen Parteien nach Art. 21 Abs. 2 GG: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“